Auf welche Aspekte deines kulturellen Erbes bist du besonders stolz bzw. für welche interessierst du dich besonders?

Ich bin in Brasilien geboren. In Deutschland aufgewachsen. Ich bin adoptiert, blind – und mein Leben war von Anfang an geprägt von Brüchen, Spannungen und der Frage nach Zugehörigkeit. Lange Zeit habe ich versucht, irgendwo ganz dazuzugehören. Heute weiß ich: Ich darf zwischen den Welten leben. Ich darf Brücken bauen. Und gerade darin liegt etwas zutiefst Kostbares. Der Schmerz des Dazwischen Adoptivkind zu sein heißt, in eine Geschichte hineingeworfen zu werden, die man sich nicht ausgesucht hat. Es heißt, zwischen zwei Familien zu leben – der biologischen und der adoptiven – und oft nicht zu wissen, wo man wirklich hingehört.

Ich wurde mit knapp zwei Jahren adoptiert. Damals war mein linkes Auge bereits blind. Ich kam aus Brasilien nach Deutschland – in eine andere Sprache, eine andere Kultur, eine andere Welt. Und so vieles habe ich nicht verstanden. Ich war kein Baby mehr, das alles vergisst. Ich hatte Erinnerungen – an Gerüche, Stimmen, vielleicht sogar an Gesichter. Und plötzlich war alles anders.

Dieser Verlust, dieses Entwurzelt-Sein – es begleitet mich bis heute. Es ist ein Schmerz, den man nicht einfach „wegtherapieren“ kann. Man kann ihn nur ernst nehmen, integrieren, verwandeln. Blind zwischen Kulturen Als ich zehn Jahre alt war, verlor ich auch den letzten Rest meines Sehvermögens. Damit wurde ich nicht nur ein Adoptivkind mit zwei kulturellen Identitäten, sondern auch ein Mensch, der sich in keiner Welt mehr so richtig zurechtfinden konnte.

In Brasilien bin ich der „Deutsche“ – fremd geworden in meinem Herkunftsland.
In Deutschland bin ich „der Brasilianer“ – mit dunkler Hautfarbe, anderer Geschichte, anderem Klang in der Stimme.
Und als Blinder bin ich in beiden Welten oft nicht gesehen – im wahrsten Sinne des Wortes.

Ich habe oft gespürt, dass ich nicht so ganz dazugehöre. Dass ich zu viel bin – oder zu wenig. Dass Menschen über mich sprechen, an mir vorbeigehen, mir nicht zuhören. Besonders hart war es, wenn ich meine Geschichte erzählen wollte – und sie nicht gehört wurde. Die Suche nach Identität Was bin ich also? Wer bin ich?

Bin ich brasilianisch, weil mein Herz Samba schlägt, weil ich den Klang des Cavaquinhos liebe, weil ich Sehnsucht nach der Wärme, der Musik, der Farben habe?
Oder bin ich deutsch, weil ich hier aufgewachsen bin, die Sprache liebe, mein Glaube sich hier gebildet hat, mein Alltag hier stattfindet?
Oder bin ich etwas ganz anderes?

Ich habe gelernt, dass ich beides bin – und mehr. Ich bin nicht „halb-halb“. Ich bin ganz ich. Ganz Johannes.

Und ich bin davon überzeugt: Gott hat mich genau so gewollt. Mein Glaube als Anker Was mich hält in all diesen Spannungen, ist mein Glaube. Mein Glaube an einen Gott, der selbst Mensch wurde, um Brücken zu bauen.
Jesus war auch „zwischen den Welten“: ganz Gott, ganz Mensch. Geliebt und ausgestoßen. Heimatlos und doch voller Zuversicht.

In ihm finde ich meinen Halt.
Er kennt mein Herz – mein zerrissenes, mein suchendes, mein liebendes Herz.
Er weiß, wie sich Einsamkeit anfühlt, Ablehnung, Verlust.
Aber er zeigt mir auch: Du bist mehr als dein Schmerz. Mehr als dein Trauma. Mehr als dein „Dazwischen“.

Ich glaube, dass Gott mich ruft, genau an diesem Ort – zwischen den Kulturen, zwischen den Geschichten, zwischen den Realitäten. Und dort darf ich leben, sprechen, wirken. Die Musik: Mein Weg zurück Wenn ich heute Musik mache – auf dem Pandeiro, dem Cavaquinho, dem Rebolo oder der Ukulele – dann spüre ich etwas, das ich kaum in Worte fassen kann. Es ist, als würde ein Teil meiner Seele heimkehren.

Die brasilianische Musik ist für mich nicht nur Klang. Sie ist Erinnerung, Sehnsucht, Heilung.
Ich habe mir viele der Rhythmen selbst beigebracht, oft mit geschlossenen Augen – und genau das ist meine Welt: Ich sehe nichts, aber ich höre, ich fühle, ich spüre.
Und manchmal – wenn ich spiele – spüre ich: Ich bin genau da, wo ich sein soll. Hoffnung und Lebensfreude Ich habe viel verloren in meinem Leben. Ich habe mich oft allein gefühlt.
Aber ich habe auch so viel gefunden: meine Stimme, meine Berufung, meinen Glauben, meine Musik.
Und ich durfte erleben, dass mein Leben trotz aller Brüche einen Sinn hat.

Heute studiere ich Theologie, um Pastor zu werden. Ich möchte Menschen begleiten, ermutigen, trösten. Ich möchte für eine Kirche stehen, die niemanden zurücklässt – nicht Menschen mit Behinderung, nicht Adoptivkinder, nicht Fremde oder Suchende.

Und ich möchte Mut machen – für das Leben zwischen den Welten.
Denn genau dort liegt oft das größte Geschenk. Ich bin Brasilianer. Ich bin Deutscher. Ich bin blind. Ich bin adoptiert. Ich bin Musiker. Ich bin Kind Gottes.
Und das reicht.

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