Jedes Jahr findet in der Kasseler Karlsaue das Sommernachts-Open-Air des Staatsorchesters statt. Das Event ist Klassik-Konzert und Kassels größtes Picknick zugleich und lockt jährlich zehntausende Besucher an. Auch Perspektivwechsel war dabei und berichtet aus dem Blickwinkel eines Blinden. Es geht um eine verzaubernde Sommernacht, tolle Klänge und um das Gefühl einsam und verloren unter 40.000 Menschen zu sein.
Sommer, Sonnenschein und gute Stimmung in der City von Kassel. So lässt sich dieser letzte Augustsamstag in der nordhessischen Großstadt beschreiben. Eine ganze Stadt hat sich seit Wochen auf das Open-Air-Konzert vor der Orangerie in der Karlsaue gefreut und vorbereitet. Für nicht wenige ist das zweitgrößte Klassik-Konzert Deutschlands das absolute Jahreshighlight.
Aber das Open-Air ist nicht die einzige Großveranstaltung in Kassel an diesem Tag. Am Mittag besiegte die deutsche Frauennationalmannschaft Montenegro im Auestadion mit 10:0 und sorgte so für ausgelassene Partystimmung bei vielen Fußballfans. Da viele Stadionbesucher den restlichen Tag in Kassel blieben, schwappte die gute Stimmung aus dem Stadion schnell auf die ganze Stadt über.

Deutliche Angelegenheit: Die Anzeigetafel zeigt am Ende das 10:0 für Deutschland an
Und dann ist der lang ersehnte Abend endlich da. Gefühlt ganz Kassel macht sich auf in die Karlsaue. Auch wir sind mit einigen Freunden verabredet und mischen uns in die Menschenmenge.
Auf der Karlswiese vor der Orangerie werden Picknickdecken und Handtücher ausgebreitet. Dicht an dicht stehen, sitzen und liegen die Menschen und freuen sich auf eine bunte und verzaubernde Sommernacht. Es fällt schnell auf, dass das Open – Air eine Veranstaltung für jedermann ist. Vom Klassikliebhaber bis zum Fußball-Fan, von Studierendengruppen bis zu Familien mit Kindern; alle sind versammelt. Schnell wird deutlich, dass dieses Jahr noch einmal mehr Besucher gekommen sind wie im letzten Jahr. Von einen neuen Besucherrekord mit 40.000 Menschen ist schnell die Rede. Damit ist klar, dass das zweitgrößte Klassik-Konzert Deutschlands in der Kasseler Karlsaue stattfindet.
Mittlerweile ist es nicht mehr ganz so heiß wie am Mittag. Das Wetter ist wie gemalt für ein Sommer – Open-Air und ein großes Picknick.
Überall riecht es nach gutem Essen. Auch wir packen unsere Picknickdecke aus und jeder aus der Runde präsentiert den anderen, was er für das gemeinsame Picknick mitgebracht hat. So entsteht ein leckeres Menü. Während wir beginnen zu essen und uns unterhalten, startet auch schon das Staatsorchester mit seinem Konzert. Zum ersten Mal bei einem Sommer-Open-Air-Konzert wird das mit viel Herzblut und Leidenschaft spielende Staatsorchester von drei sich abwechselnden Dirigenten geleitet. Neben Generalmusikdirektor Angelico dirigierten die Kapellmeister Mario Hartmuth und Alexander Hannemann.
Als stimmungsvollen Auftakt wählte das Staatsorchester die Sinfonie (Obertüre) zur Verdi-Oper „Nabucco“. Auch wenn die meisten Leute noch in ihre Gespräche und ihr Essen vertieft sind, schaffen es die Protagonisten mit diesem Auftakt sofort das Publikum auf ihre Seite zu ziehen. Dass das Staatsorchester gerade mit diesem Stück den Abend eröffnet ist kein Zufall, denn in dieser Ouvertüre klingt das Thema des Gefangenenchors (Freiheitsoper) aus Nabucco an. Dies passt zu dem Motto, unter dem dieser Abend stehen soll: „Gemeinsam sind wir stark“. Unter diesem Motto demonstrierten nach der Ermordung des Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke zehntausende Menschen in Kassel gegen Rechtsextremismus und machten sich stark für eine bunte, offene und vielfältige Gesellschaft.
Bunt und vielfältig ist dann auch das Programm, welches den Zuschauern in den nächsten Stunden geboten wird. Bekannte Stücke wie die Arie „Dein ist mein ganzes Herz“ aus der Operette „Land des Lächelns“ wechseln sich munter mit unbekannteren Stücken ab. Auf stimmungsvolle und schwungvolle Stücke folgen sanfte und ruhige Töne. So wird dem Zuhörer nicht langweilig. Passend zu den Musikstücken wird das Orangerieschloss in unterschiedliche Farben getaucht. Meine sehenden Freunde halten mich über die unterschiedlichen Farbprojektionen stets auf dem Laufenden, sodass ich mir passend zur Musik sehr gut vorstellen kann, wie schön Karlswiese, Orangerie und die vielen Menschenmassen sowohl akustisch als auch visuell zueinander passen.

Zudem beschert uns die laue Sommernacht einen sternenklaren Himmel. Nicht wenige Menschen lassen sich von der tollen Musik des Staatsorchesters verzaubern und beobachten dabei verträumt den Sternenhimmel oder die Orangerie. Ich lasse mir beides immer wieder von meinen Freunden beschreiben. Bei Käsespießen, Frikadellen, Wein und anderen Köstlichkeiten genießen wir als Gruppe den traumhaft schönen Abend. Viel zu schnell steuert das Konzert auf seinen Höhepunkt zu.
Die Klängen des ungarischen Rákóczi Marschs werden von tausenden ahs und ohs des faszinierten Publikums begleitet. Über der Orangerie wird ein großes und farbenfrohes Feuerwerk gezündet. Eine gelungene Inszenierung des Höhepunkts. Überall werden Fotos gemacht, liegen sich Pärchen in den Armen und freuen sich Menschen.
Und dann ist er ganz plötzlich da. Dieser Moment, indem ich mich trotz der vielen Menschen um mich herum ganz einsam und verlassen fühle. Während um mich herum die Welt in ein farbenfrohes Schauspiel verwandelt wird, bleibt es für mich dunkel. Schmerzlich wird mir bewusst, dass mir die bunte und helle Welt für immer verschlossen bleiben wird. Waren die Musikstücke noch etwas, was alle Gäste hauptsächlich akustisch wahrgenommen haben, ist das Feuerwerk etwas, was nur visuell in seiner ganzen Pracht erlebt werden kann.
In diesem Moment fühlt es sich für mich so an, als hätte sich eine schwarze undurchdringliche Mauer zwischen mich, meine Freunde und all die anderen Konzertbesucher geschoben. Ein dunkler schwarzer Raum, der mich gefangen nimmt und aus dem es keinen Ausweg gibt. Gefühle wie Einsamkeit, Traurigkeit, Verzweiflung und Wut bereiten sich in meiner Seele aus und wollen Besitz von mir ergreifen. In diesem Moment würde ich am liebsten davonlaufen, mich irgendwo in eine stille Ecke zurückziehen und mich den negativen Gedanken ergeben. Doch die fehlende Orientierung hindert mich daran. So bleibe ich und versuche verzweifelt im Stillen gegen diese Gefühle anzukämpfen, während die restlichen Menschen das Feuerwerk bestaunen.
Doch das ich nicht einfach davon laufen kann ist gut so,denn gerade als mich die negativen Gefühle endgültig überwältigen wollen, wird die schwarze undurchdringliche Wand doch noch durchbrochen. Durchbrochen von Freunden die mich in den Arm nehmen, mir auf die Schulter klopfen und mir zeigen,dass sie meine Kämpfe wahrgenommen haben und ich nicht alleine bin. Freundschaft ist stärker als Einsamkeit und die Traurigkeit schafft es doch nicht mich zu überwältigen und muss weichen, denn „Gemeinsam sind wir stark!“
Das Motto des Abends bekommt in diesem Moment für mich eine komplett neue Bedeutung. Es sind Situationen wie diese, die mir immer wieder Zuversicht, Mut und Stärke geben. Momente, in denen ich traurig und verzweifelt wegen der Blindheit bin, kommen immer wieder. Aber zu wissen, dass gerade dann Freunde da sind, die mich unterstützen und mir Kraft geben, tut unglaublich gut.

Der Hit „Raiders March“ aus „Indiana Jones“ beendete kurze Zeit später unter tosendem Applaus das Konzert. Begeistert, glücklich und zufrieden packen wir unsere Picknick-Sachen ein und schlendern gemütlich zurück in die Kasseler Fußgängerzone. Am Schluss sind sich alle einig: Wir haben eine tolle, faszinierende und verzaubernde Sommernacht erlebt.