Meine Brasilienreise: Auf dem Weg nach hause

Ich wurde in Brasilien geboren und mit knapp zwei Jahren von meiner deutschen Familie adoptiert. Im August 2023 kehrte ich zum ersten mal in mein Heimatland zurück und traf meine biologische Familie. In dieser dreiteiligen Serie erzähle ich von meiner Reise, meinen Emotionen, meinen Erfahrungen in Brasilien und wie die Begegnungen in meinem Heimatland mein Leben verändert haben. Außerdem berichte ich davon, wie ich es als Blinde Person erlebt habe einmal um die halbe Welt zu reisen und wie man in Brasilien mit meiner Behinderung umgeht.

Als ich 2017 meine Brasilianische Familie fand war sofort klar, dass es nicht nur bei dem Kontakt übers Internet bleiben kann. Ich wollte die Menschen persönlich treffen, die biologisch meine Familie sind. Und ich hatte auch schon sehr lange dieses Gefühl, dass etwas in Brasilien nach mir ruft und meine Seele anzieht. Und da war auch immer diese Lücke, dieses Gefühl dass einfach etwas fehlt in meinem Leben. Nichts materielles und auch keine Liebe oder Ähnliches. Ich war schon immer sehr dankbar und zufrieden mit meinem Leben hier in Deutschland, aber trotzdem hat da etwas gefehlt und mir war früh klar, dass diese Lücke nur in Brasilien ausgefüllt werden kann.

Aber wie bereitet man sich auf so eine Reise vor? Wie fühlt es sich an, nach 29 Jahren das erste mal der Frau zu begegnen, die einem direkt nach der Geburt weggegeben hat? Wie ist es, nach so langer Zeit endlich den Menschen gegenüber zu stehen, die zwar Familie und damit ganz na an deinem Herzen sind, aber doch so fremd und weitentfernt sind? Und wie kann eine Reise um die halbe Welt für einen Blinden funktionieren? Ich weiß nicht, wie viele schlaflose Nächte es gab, in denen ich über diese und noch andere Fragen nachgekrübelt habe. Diese Reise würde etwas einmaliges werden, etwas, was mit nichts vorherigem in meinem Leben vergleichbar sein würde.

Die Vorbereitungen: Vorfreude und ein skeptisches Umfeld

Oktober 2022: Die Operation, bei der ich mein linkes Auge verlor ist gerade einmal knapp zwei Monate her. Zeit um das geschehene zu verarbeiten hab ich keine, denn vor wenigen Tagen kam die Bestätigung dass auch mein rechtes Auge entfernt werden muss. Dem entsprechend mies ist auch meine seelische Verfassung. Der Verlust meiner natürlichen Augen, die harte Realität jetzt Entgültig für immer blind zu sein, die körperlichen Schmerzen und das Single sein, was sich in diesen Tagen zum ersten mal seit meiner Trennung wie ein Schmerz anfühlt sprechen wenig für eine Aufbruchstimmung und große Zukunftspläne Und trotzdem sind es genau diese Tage, in denen aus bloßen Träumen und Sehnsüchten plötzlich Wirklichkeit wird. In diesen Tagen wird Brasilien zu einem Ziel, was plötzlich nicht mehr unerreichbar scheint, sondern ganz na ist. Es sind die Tage, in denen eine ganz entscheidende Veränderung eintritt. Meine Einstellung zu meinem Leben und zu meinen Träumen verändert sich. So schwer die Zeiten auch gerade sind und so viele Krisen auch schon vorher da waren, ich entscheide mich jetzt erstreckt mit vollem Einsatz für mich und meine Träume einzustehen und das unmögliche möglich zu machen. Und so beginnt mitten in der vielleicht herausforderndsten Zeit in meinem Leben auch die aufregendste Phase. Und irgendwie scheint plötzlich alles möglich: Flugtickets kaufen, einen Portugiesischlehrer finden und mit meiner Familie große Pläne schmieden passiert alles binnen weniger Tage. Die Reisevorbereitungen machen mir viel Spaß und geben mir wieder viel von meiner alten Lebensfreude und Willensstärke zurück. Die Euphorie, die mich in diesen Tagen ergreift hat tatsächlich die Kraft, mich durch die schwere Zeit mit meinem neuen Glasaugen durchzutragen.

Weniger euphorisch reagieren allerdings einige wenige Menschen aus meinem Umfeld, als sie von meinen Plänen erfahren. Immer wieder muss ich mir anhören, dass ich doch total naiv sei, weil ich so eine große Reise komplett alleine machen will und nicht wenige prophezeien mir ein Totaldesaster. Zu den größten Zweifler und Kritikern gehörten überraschenderweise andere blinde Menschen. Während die meisten sehenden Menschen zwar anfangs verwundert über meine kühnen pläne waren, kamen aus der Blindenszene überwiegend Kritik, Zweifel und teilweise auch Anfeindungen.

Anders als 2018 lasse ich mich dieses mal jedoch nicht von meinen Träumen abbringen und halte an den Plänen fest.

Die letzten Tage und Wochen vor Abflug vergehen wie im Flug, was sicher auch daran liegt, dass ich mir die Wartezeit mit einem Umzug innerhalb Berlins verkürze. Ob ich in den letzten Nächten vor Reisebeginn gut oder schlecht geschlafen habe weiß ich nicht mehr, allerdings wurde meine Aufregung von Stunde zu Stunde tatsächlich eher weniger. Ich wurde ganz ruhig und spürte nichts als Vorfreude. Und dann war der langersehnte große Tag endlich da!

Einmal um die halbe Welt

Natürlich habe ich mir viele Gedanken über die Reise gemacht und schon im Vorfeld alles organisiert, damit auf der langen Reise nach Brasilien auch mit Blindheit alles gut klappt.

Mit dem Zug ging es vom Berliner Hauptbahnhof nach Frankfurt, Main, von wo aus mein Flug nach Sao Paulo startete. Am Frankfurter Flughafen hatte ich eine Assistenz Gebucht, die mich vom Bahnhof abholte und mit eine Art Velotaxi durch den riesigen Flughafen erst zur Gepäckaufgabe und anschließend zu meinem Abfluggate und Zollkontrolle fuhr. Dies war für mich sehr komfortabel, da ich einerseits nicht hektisch umherirren musste, um mein Gate zu finden und andererseits mein Gepäck nicht tragen musste. Wahrscheinlich war der Aufenthalt am Flughafen für mich viel entspannter als für die meisten sehenden Menschen. Der Fahrer des Velotaxis war ein netter Mann aus Indonesien; wir unterhielten uns und ich erzählte ihm von meinem Reiseziel und er sprach von seinem Leben im Rhein-Main-Gebiet und der Arbeit am Flughafen. Es stellte sich heraus, dass er genau wie ich Christ ist, was die Verbindung zwischen uns nochmal tiefer werden lies. Unterwegs sammelten wir noch ein Pärchen ein, die auf dem Weg nach Buenos Aires waren. Sie waren Argentinier und somit war unsere bunte argentinisch-Brasilianisch-Indonesische Gruppe perfekt.

Am Gate wurde ich von Mitarbeitern der Lufthansa in Empfang genommen und bis zu meinem Sitzplatz im Flugzeug begleitet. Die Stewardessen waren super freundlich und hilfsbereit. Keine Spur von Berührungsängsten wegen meiner Blindheit oder Verwunderung, dass eine blinde Person alleine reist. Sicherlich war ich für die meisten der erste Blinde Passagier, aber es schien so, als wären die ganzen Zweifler und Kritiker meiner Pläne weit entfernt.

Mit einigen Stewardessen kam ich ein bisschen ins Gespräch, sie freuten sich alle mit mir, dass ich endlich mein Heimland und meine biologische Familie kennenlernen durfte. Als ich im Flugzeug saß und das Flugzeug langsam loswollte überkam mich ein Gefühl unglaublicher Dankbarkeit und Vorfreude. Nach all den Kriesen, Herausforderungen und Rückschlägen der letzten Jahre saß ich tatsächlich im Flieger nach Brasilien! Als 2018 mein erster Versuch scheiterte dachte ich, ich würde es nie zurück in mein Heimatland schaffen. Damals führten viele Umstände dazu, dass ich die Reise im letzten Moment absagen musste. Eine Toxische Beziehung die mein Selbstwert völlig zerstörte, ein Umfeld was mir noch energischer meine Träume und Sehnsüchte ausredete und viel weniger mentale Stärke um mich allen Wiederständen zum Trotz trotzdem auf den Weg zu meinen Wurzeln zu machen verhinderten, dass ich schon fünf Jahre früher meine Familie und meine Heimat treffen konnte und hinterließen bei mir das Gefühl, dass ich es nie schaffen würde. Der Verlust meiner natürlichen Augen ein Jahr zuvor schienen diese Gewissheit nur zu bestärken, doch nur acht Monate nach der zweiten Operation saß ich im Flieger nach Brasilien und hatte es tatsächlich geschafft.

Der Flug verlief weitestgehend ruhig mit nur wenigen Turbulenzen und auch genauso wenig Schlaf. Ich hatte mir extra alle Sherlock Holmes Hörspiele heruntergeladen und dazu noch meine Lieblingsplaylist mit ganz viel brasilianischer Musik und vielen christlichen Songs. Und so vergingen 11 Stunden Flugzeit, in denen ich überwiegend entspannt, aber trotzdem voller Vorfreude und positiver Erwartungen war.

Emotionale Ankunft

„Sehr geehrte Fluggäste, gerade befinden wir uns über Belo Horizonte, die Landung in Sao Paulo wird etwa in 45 Minuten erfolgen…“ Die Ankündigung des Piloten riss mich aus meinen Gedanken. Und dann passierte etwas, womit ich so kurz vor der Ankunft nicht mehr gerechnet hatte; plötzlich kamen alle Emotionen, Ängste, Sorgen und Zweifel mit aller macht an die Oberfläche. Mir wurde plötzlich bewusst, dass ich wirklich in Brasilien war. Wie würde das Land, von dem ich mich als Kind viel zu früh verabschieden musste mich heute empfangen? Würde ich hier wieder Ablehnung erfahren? Würde man mich wieder alleine lassen? Was, wenn die Begegnung mit meiner leiblichen Familie in einer Enttäuschung enden würde? Hätte ich die kraft ein neuerliches Verstoßenwerden auszuhalten? Würde ich mich alleine in diesem Land zurechtfinden? Dies und noch viel mehr kam plötzlich an die Oberfläche und ich kam mir plötzlich klein, schwach und Hilflos vor. Wie das Baby, was nach seiner Mutter schreit und gehalten werden will. Aber da waren keine liebevollen Arme, weder für das Baby, noch für mich in diesem Moment. Und ja, dies war der Moment, wo ich die Trähnen nicht mehr zurückhalten konnte. Ich weinte und lies zu, dass mich die Emotionen komplett überrollten. Es war vielleicht das erste mal, dass ich wegen meiner Adoptivgeschichte weinen konnte.

„Sehr Geehrte Fluggäste, wir befinden uns im Landeanflug auf Sao Paulo…“ Wieder war es die Stimme des Piloten, die mich aus meinen Gedanken und Emotionen riss. Und tatsächlich fühlte ich mich jetzt viel stärker. Dieser Moment totaler emotionaler Überforderung, er hat keine halbe Stunde gedauert, doch er hat einen ganz anderen Menschen aus mir gemacht. Im Nachhinein würde ich sagen, dass diese halbe Stunde der wahrscheinlich wichtigste Moment auf meiner Reise war. Ich habe diesen emotionalen Ausbruch gebraucht um mir nochmal richtig und entgültig bewusst zu werden, was hier gerade passiert und was ich will. Nun fühlte ich mich stärker als je zu vor und wusste, dass ich mehr als bereit für mein Heimatland und vor Allem für meine brasilianische Familie war.

Der Touchdown auf brasilianischen Boden, das Aussteigen und die ersten Gerüche waren im positiven überwältigend. Mein Herz spürte sofort, dass es nach langer Zeit nach Hause gekommen war. Es ist etwas, was sich mit Worten kaum beschreiben lässt. Die Mischung aus Gerüchen, die mir altvertraut und entfernt bekannt vorkamen, die Geräusche, das Portugiesisch, dass meinem Herzen schon immer ein Gefühl von Geborgenheit gegeben hat und die Brasilianische Luft gaben mir sofort das Gefühl von ich bin zu Hause und es ist gut dass ich hier bin.

Vom Flugzeug wurde ich direkt von brasilianischen Flughafenmitarbeitern abgeholt. Es Gab kein Welotaxi, sondern einen Rollstuhl, mit dem ich durch den Flughafen gefahren wurde. Ich weiß, dass es viele blinde Menschen als demütigend empfinden, wenn ihnen ein Rollstuhl gebracht wird, weil es für viele bedeutet, dass man ihnen die Mobilität und das laufen abspricht. Ich wunderte mich zwar auch etwas über mein Gefährt und erklärte dem Mitarbeiter, dass ich auch alleine laufen könne. Als er mir aber anbot, dass er mich gerne fahren würde nam ich das Angebot aber dankend an und fühlte mich in kleinster weise gedemütigt. Im Gegenteil: die Mitarbeiter waren überaus freundlich und hilfsbereit. Und noch etwas stellte ich fest: ab jetzt funktioniert nur noch portugiesisch sprechen. Selbst am größten Flughafen des Landes spricht fast niemand englisch.

Thomaz, der mal für ein Jahr als Gastschüler in meiner Familie gelebt hat und ein großer Bruder für mich ist erwartete mich im Flughafen. Seine Familie lebt nur eine Stunde von Sao Paulo entfernt und so hatten wir vereinbart, dass er für die ersten Tage Mit zu meiner Familie kommt. Gemeinsam Namen wir ein Brasilianisches Frühstück ein und nahmen dann schließlich den Flieger in meine Heimatstadt Curitiba. Meine Aufregung stieg jetzt natürlich sekündlich genau wie die von meiner Familie, mit denen ich natürlich die ganze Zeit in Kontakt war. Und dann landeten wir in Curitiba. Während in Sao Paulo noch die Sonne schien regnete es in Curitiba und es war ziemlich kalt.

Familientreffen, Küsse und Umarmungen

Und dann war er da, der Moment auf den wir alle fast 29 Jahre gewartet haben. Der Moment, den ich mir so oft ausgemalt hatte. Eine Familie findet wieder zusammen. Als erstes vielen sich meine Bauchmama und ich um den Hals. Es flossen Tränen, es gab viele Küsse und überwältigend viel Liebe. Es war der heilendste Moment für mich in meiner ganzen Adoptivgeschichte. All der Schmerz, die Verletzungen, die vielen Fragen, die ganzen Ängste … all das zählte in diesem Moment nicht mehr. Da war nur ganz viel gegenseitige Liebe, gegenseitiges Verstehen und Verzeihen. Unsere Herzen waren schon verbunden, bevor wir auch nur ein Wort miteinander gesprochen hatten. Ich spürte in diesem Moment einfach, dass ich neben meiner Familie in Deutschland noch eine zweite Familie habe, die mich über alles liebt und nie damit aufgehört hat. Ich werde oft gefragt, wie ich die Menschen und vor allem die Frau, die mich nach der Geburt weggegeben hat vergeben konnte und sie so selbstverständlich als Familie betrachte, für die ich genau wie für meine deutsche Familie notfalls alles opfern würde. Meine Antwort ist dann, weil mein Herz immer wusste, dass meine Bauchmama mich immer geliebt hat und ich am Flughafen von Curitiba die Bestätigung gespürt habe.

Neben meiner Bauchmama waren auch mein jüngerer Bruder und meine Schwester mit ihrem ein jährigen Sohn am Flughafen. Mit ihnen war die Begrüßung natürlich ebenfalls sehr emotional. Nachdem alle küsse und Umarmungen verteilt waren und wir emotional bereit waren ging es mit dem Auto meines Bruders in das Haus, wo mein Bruder mit seiner Frau und Tochter lebt. Ich war zu Hause, im Land meiner Wurzeln, ich hatte meine Familie getroffen und meine Familie und mein Heimatland hatten mich akzeptiert. Mehr noch, ich wurde freudestrahlend umarmt und gehörte dazu. Das machte mich unglaublich glücklich. Und die nächsten Tagen sollten mich noch viel glücklicher machen und zu den schönsten und freudigsten Wochen in meinem Leben gehören.

Im zweiten Teil werde ich von all den Erlebnissen in Brasilien berichten und im dritten Teil erzählen, was sich durch meine Brasilienreise alles in meinem Leben verändert hat.

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